Die 103-Jährige Shoa-Überlebende Margot Friedländer eröffnete die Montag-Ausgabe der „Tagesschau“. Ein bedeutender Moment.

Die 103-Jährige Margot Friedländer ist ein Phänomen. Leider ist die Zeit gekommen, in der die Generation, die noch aus eigenem Erleben über die Zeit des Nationalsozialismus, der Verfolgung und der Vernichtung berichten kann, langsam verstummt. Dass am 80. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz eine Frau dieser Generation die größte Nachrichtensendung Europas eröffnet, ist ein starkes Zeichen, das bereits jetzt als historisch betrachtet werden muss. 

Margot Friedländer, 102, Überlebende des Holocaust, Berlin
© Julia Sellmann

„Ich spreche für die, die es nicht geschafft haben und nicht nur für die sechs Millionen Juden – für alle, die man umgebracht hat“, sagt Margot Friedländer im Interview mit der „Tagesschau“-Redaktion, das den Moderator so zu Tränen rührte, dass ihm die Stimme versagte. „Für Menschen, die nur Menschen sind. Und es ist für euch, für die Zukunft, für die Demokratie.“ Sie selbst überlebte das Konzentrationslager Theresienstadt als einzige in ihrer Familie. Ihr jüngerer Bruder Ralph, ihre Mutter Auguste wurden 1943 in Auschwitz ermordet, Vater Arthur und ihre Tante bereits ein Jahr zuvor.

Margot Friedländer leistet Unmenschliches für die Menschlichkeit

Geradezu unermüdlich geht Friedländer, so lange ihre Kraft es zulässt, in Schulen, um zu warnen und zu mahnen. Inzwischen haben so genannte „Zweitzeugen“ die Aufgabe übernommen, von ihren Begegnungen mit Friedländer und anderen Überlebenden zu berichten und deren Botschaften in die Zukunft weiterzutragen. Im vergangenen Jahr hat sie vor dem Bundestag gesprochen, war auf dem Cover der „Vogue“. Margot Friedländer ist kein Ort zu minder, kein Kanal scheint ihr ungeeignet, um ihre Botschaft zu transportieren. Jedes Wort, das sie an die junge Generation richtet, ist heute wichtiger denn je. 

Schließlich kann jeder zehnte junge Erwachsene in Deutschland nichts mit Begriffen wie „Holocaust“ oder „Shoah“ anfangen. Das hat jüngst Studie der Jewish Claims Conference zu Tage gebracht. Größere Teile der Befragten konnten maßgebliche Daten nicht beziffern, wussten nicht, dass sechs Millionen Juden von den Nationalsozialisten ermordet wurden.

Unter diesem Eindruck ist das Engagement Friedländers und ihre Kunst, die Menschen zu erreichen, nicht hoch genug einzuschätzen. So wird sie einmal in Erinnerung bleiben: Als jene Frau, die in hohem Alter noch einmal alles gegeben hat, nahezu Unmenschliches für die Menschlichkeit leistet – gerade in einer Zeit, in der sich auch in Deutschland die Situation verfinsterte, leider auch wieder für Juden und Jüdinnen. Auch macht Friedländer aus ihrer Enttäuschung kein Hehl. „Ich hätte es nicht erwartet. Als ich zurückkam nach Deutschland, nach Berlin, nachdem ich 64 Jahre in Amerika gelebt habe, war es ruhig“, so Friedländer gegenüber der „Tagesschau“-Redaktion. „Ich bin enttäuscht.“

Klare Worte in Zeiten der Sonntagsredner

Gerade in der Gedenkkultur haben sich die Sonntagsredner breit gemacht, Politiker sprechen Mahnungen aus, die es nicht einmal in ihre eigenen Amtsführungen schaffen, umgesetzt zu werden. 

Margot Friedländer hat nicht viel mehr als ihr Credo zu bieten, das „Seid Menschen“ lautet. In seiner schlichten prägnanten Aussage und Kraft ihrer Lebenserfahrung und Lebensleistung erwächst daraus ein Appell, der besonders bei der jüngeren Generation gehört wird. Man kann nur hoffen, dass er noch in vielen Jahren und Jahrzehnten Gehör findet.