Ein Ehepaar ist angeklagt, weil es bei Hockenheim einen Doppelmord begangen haben soll, um an ein Baby zu gelangen. Laut Gutachter lebten sie zuvor ein ganz normales Leben.
Normale Kindheit, normale Intelligenz, normales Leben: Im Prozess um den Mord an zwei Ukrainerinnen vor dem Landgericht Mannheim hat der psychiatrische Sachverständige Hartmut Pleines dem angeklagten Ehepaar eine uneingeschränkte Schuldfähigkeit attestiert. Die Staatsanwaltschaft wirft Ina und Marco O. vor, Ryta R. (27) und deren Mutter Maryna N. (51) im März vergangenen Jahres bei Hockenheim getötet zu haben, um sich das Neugeborene von Ryta R. anzueignen. Die beiden Angeklagten haben am ersten Prozesstag umfassend gestanden.
Trotz der abgründigen Tat stellte der Gutachter am Montag jedoch keine seelischen Abartigkeiten fest, keine intellektuellen Einschränkungen, keine schweren Depressionen. Es gebe keinerlei Hinweise auf belastende Lebensumstände, sagte Pleines.
Vor dem Doppelmord von Hockenheim zeigten sie keine Auffälligkeiten
Marco O. habe demnach einen fürsorglichen Stiefvater gehabt, der sich um ihn gekümmert habe. Als einzige Auffälligkeit des Angeklagten, der gleich zwei Berufsabschlüsse als Metzger und Koch machte, nannte der Gutachter narzisstische Persönlichkeitszüge. Marco O. betrachte sein Leben tendenziell mit dem Weichzeichner und übersehe Schwierigkeiten.
Gleichwohl sei der 43-Jährige psychisch stabil. Zwar habe er regelmäßig Drogen konsumiert, aber nicht mehr als ein Gelegenheitskonsument. Eine „süchtige Bindung“ lasse sich nicht nachweisen.
Doppelmord Hockenheim Auftakt Text 19.30
Auch bei Ina O. sieht der Gutachter keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer psychischen Störung. Ihre Kindheit sei harmonisch verlaufen – zunächst in Kasachstan, wo sie geboren sei, dann in Deutschland, wohin die Familie als Spätaussiedler zog. Problemlos habe sie sich in die fremde Kultur eingefügt; Leistung und Pflichterfüllung seien Ina O. wichtig gewesen. Pleines sprach von einem „bürgerlichen Selbst- und Lebenskonzept“.
Zwar habe es Belastungen gegeben, etwa durch die erste Ehe mit einem Alkoholiker. Auch der unerfüllte Kinderwunsch in der späteren Ehe mit Marco O. habe eine Belastung dargestellt. Dies habe aber allenfalls zu depressiven Verstimmungen geführt, zu denen Ina O. in solchen Situationen neige. Ihre psychische Stabilität sei dadurch nicht „erodiert“. An keiner Stelle der monatelangen Planungen bis zum Tattag am 6. März 2024 sei erkennbar, dass ihr die Handlungskontrolle entglitten wäre.
„Babys liegen 20 Meter von mir entfernt und Notausgang direkt daneben“
Wo also sind Ina und Marco O. von der Bahn abgekommen, in der ihr normales und durchschnittliches Leben verlief? Einen Hinweis lieferte ein Bekannter von Marco O., der am Montag als Zeuge aussagte. Anfang 2023 habe er eine Whatsapp-Nachricht von Marco O. erhalten. Darin habe dieser geschrieben, Ina O. habe gerade eine Fehlgeburt erlitten, er sitze gerade in einem Krankenhaus – und es sei ja so einfach, ein Kind zu entführen: Nur ein Pfleger und eine Ärztin seien anwesend. „Und komplett keine Kameras und Leute gesehen. Babys liegen 20 Meter von mir entfernt und Notausgang direkt daneben“.
Der Zeuge sagte aus, er habe das für „Dummgebabbel“ gehalten. Er habe zuletzt nur noch losen Kontakt zu seinem Freund gehabt, den er nach eigenen Angaben seit 30 Jahren kennt. Immer wieder habe er ihm zur Trennung von Ina O. geraten. Als Marco O. ihm erzählt habe, dass Ina O. noch ein Kind wolle – das Ehepaar hatte bereits ein gemeinsames Kind und insgesamt drei Kinder aus ihren jeweils ersten Ehen – habe er ihm gesagt: „Das bringt doch nichts, ihr streitet euch nur.“ Es sei besser, sich zu trennen, für beide Seiten.
stern_PLUS Mordprozess Mannheim 18:36
Zu diesem Zeitpunkt aber hatten Ina und Marco O. womöglich längst ihren Plan gefasst. Erst sollen sie im Ausland nach einer Möglichkeit gesucht haben, sich ein Kind anzueignen, dann sollen sie sie sich für die schwangere Ryta R. entschieden haben, die in Wiesloch lebt. Die 27-Jährige war vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen und wohnte in einer Flüchtlingsunterkunft. Im Herbst 2023 zog ihre Mutter zu ihr, um während Schwangerschaft und Geburt bei ihr zu sein. Ina O. gab laut Anklage vor, Ryta R. bei Übersetzungen zu unterstützen, die junge Frau war offenbar dankbar.
Wenige Tage nach der Geburt von Sofia, wie das Kind hier heißen soll, wurde Ina O. mit dem Mädchen bei einer Kinderärztin vorstellig – ohne die Mutter Ryta R. Es gelang ihr offenbar, der Ärztin gegenüber das Kind als ihr eigenes auszugeben, indem sie von einer Sturzgeburt im Treppenhaus erzählte. Der herbeigerufene Rettungswagen sei nicht gekommen, weil er zu viel tun gehabt habe, also habe der Vater die Nabelschnur durchtrennt.
Das Urteil könnte am 10. Februar fallen
Vor Gericht sagte die Kinderärztin: „Das klingt alles ganz wild, aber wir kriegen viele wilde Geschichten.“ Letztlich habe Ina O. beim Umgang mit dem Säugling sehr souverän gewirkt. Das Einzige, was ihr aufgefallen sei: „Das Kind war bildschön.“ Das habe nicht gepasst.
Am 11. März, so die Ärztin, sei Ina O. noch einmal mit dem Kind vorbeigekommen. Die vermeintliche Mutter habe ihr Auskunft darüber gegeben, was das Mädchen trinke und ob es Vitamin D bekomme.
Ein ganz normaler Termin mit einer ganz normalen Frau.
Die wahre Mutter – und deren Mutter – hatten Ina und Marco O. wenige Tage zuvor getötet.
Das Urteil in dem Prozess soll am 10. Februar fallen.