Vor 50 Jahren brachte eine 18-Jährige den Jazzmeister Keith Jarrett dazu, auf einem kaputten Flügel ein Jahrhundertkonzert zu spielen. Davon erzählt Film „Köln 75“.
Von dem Jazzpianisten Keith Jarrett heißt es, er habe immer erst wenige Momente vor einem Auftritt gewusst, was er spielen werde. Er bereitete sich nicht vor, hatte keinen Plan, er war stets vollkommen frei. Sein berühmtestes Konzert gab er 1975 in Köln. Die Aufnahme wurde zu einem Hit, Auflage: vier Millionen. Die Legende sagt, er habe sich an dem Abend von dem Gong der dortigen Oper antreiben lassen. Die Geschichte aber ist falsch. Eine Frau weiß, wie es tatsächlich war.
Vera Brandes war damals 18 Jahre alt, Schülerin in Köln, Tochter eines Zahnarztes. Und sie war eine Jungunternehmerin, sie organisierte Jazzkonzerte. Nun wollte sie einen Auftritt von Keith Jarrett stemmen, der seit den frühen 70er-Jahren eine große Nummer im Jazz war, der mit Miles Davis gespielt hatte. Seine Solokonzerte in Europa, zu denen er sich in einem Renault 4 chauffieren ließ, zogen schon damals viele Zuschauer an. Logisch, dass die 1400 Karten für die Kölner Oper schnell ausverkauft waren. Jarrett kam im Laufe des Tages in der Stadt an, stellte bei der Besichtigung der Bühne aber fest, dass dort mitnichten der vereinbarte Flügel stand, kein Bösendorfer Imperial, sondern ein minderwertiges Modell, bei dem mehrere Tasten nicht reagierten und ein Pedal klemmte. Darauf wollte er nicht spielen, und beinahe saß er schon wieder im Renault 4, als Vera Brandes ihn umstimmen konnte.
Wie ihr das gelang, davon erzählt der Spielfilm „Köln 75“, der nun zum 50-jährigen Jubiläum des Konzerts in die Kinos kommt. Brandes wird gespielt von Mala Emde („Charité“), Jarrett von John Magaro („September 5“), Regie führte der Israeli Ido Fluk, der das Drehbuch auf der Grundlage langer Gespräche mit Brandes schrieb. Jarrett selbst, der sich nach zwei Schlaganfällen aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat, wollte an dem Film nicht mitwirken; auch die Verwendung der Originalmusik ließ er nicht zu. So ist es ein Film über ein Konzert geworden, von dem kein Ton zu hören ist. Trotzdem entwickeln manche Passagen einen Sog, wie er auch Keith-Jarrett-Aufnahmen gelingt. Etwa an der Stelle, da Brandes an die Hotelzimmertür von Jarrett klopft, um ihn doch zum Auftritt zu überreden. Es ist ein Dialog durch eine geschlossene Tür.
If you don’t play tonight, I am gonna be truly fucked
Brandes selbst erinnert sich im Gespräch mit dem stern wie folgt an diese Szene: „Die Unterhaltung bestand darin, dass ich in meinem damals radebrechenden Englisch auf ihn einredete, nicht wissend, was ich da eigentlich sage.“ Da sie bei anderen Gelegenheiten erlebt hatte, wie Miles Davis mit seinen Musikern umsprang, habe sie dessen Vokabular übernommen: „Ich habe gesagt: If you don’t play tonight, I am gonna be truly fucked. And I know you’re gonna be truly fucked, too.“
Und Jarrett daraufhin? „Da kam erst mal nichts, weil, ich meine, was sagst du da? Da steht so eine blonde 18-Jährige vor dir und sieht aus wie die kleine Schwester von Brigitte Bardot, und sie ist vollkommen verzweifelt. Er antwortete dann im gleichen Miles-Davis-Ton: Okay, I play, but never forget – just for you.“
Am Freitagnachmittag trieb Brandes zwei Klavierstimmer auf, die das Instrument im Hinterraum so gut wie möglich in Form brachten – während auf der Bühne die Oper „Lulu“ aufgeführt wurde. Erst danach sollte Jarrett beginnen, das Mitternachtskonzert eines übermüdeten Künstlers, geplagt von Rückenschmerzen.
Brandes sagt: „Trotz der schnellen Reparatur war der Flügel kaum besser als ein kaputtes Kneipenklavier. Jarrett musste improvisieren.“ Das alles habe die Magie dieses nunmehr legendären Abends wahrscheinlich erst ermöglicht: „Er musste sein Ego überwinden, war zurückgeworfen auf elementare Dinge.“
Als Jarrett sich endlich an den Flügel setzte und zu spielen begann, war Brandes selbst nicht im Saal. Sie hatte sich einen Platz im Bauch des Opernhauses gesucht, vernahm von dort die ersten Töne und wusste: „Da drinnen passiert etwas Magisches. Ich war so glücklich. Ich habe zu mir selbst gesagt: Okay, das ist zwischen dem Künstler und dem Publikum, was jetzt abgeht.“
Nach dem Auftritt sei Jarrett aufgestanden und verschwunden, ohne sich zu verabschieden. Die Platte wurde zum Erfolg, sie machte Jarrett und dessen deutsche Plattenfirma ECM reich, Brandes aber hat keinen Pfennig abbekommen.
Keith Jarrett fühlte sich lange verfolgt vom „Köln Concert“
Später wollte sie ihn wiedersehen, doch da hatte sich Jarrett, wie sie es nennt, längst eine Maske zugelegt, gab sich unnahbar und herablassend. „Bei einem Konzert in Wien bin ich hinter die Bühne gegangen, weil ich den Veranstalter kannte. Jarrett begegnete mir mit den Worten: Ah, they tell you are the woman from Cologne with the broken piano. Da habe ich nur gesagt: War schön, dich getroffen zu haben. Tschüss.“
Jarrett fühlte sich lange verfolgt von dem „Köln Concert“, so der Titel des Albums. 1992 sagte er im Interview mit dem „Spiegel“: „Man sollte alle Aufnahmen einstampfen. (…) Genauso wie ich glaube, dass wahre Musik aus einem echten Bedürfnis heraus entsteht, so denke ich, dass man Musik auch vergessen muss. Sonst bleiben wir süchtig an Vergangenem hängen.“ Im selben Interview sagt er auch: „Eines meiner Probleme als Musiker besteht darin, dass ich das Klavier nicht mag. Ich hasse es. Besonders, wenn ich Jazz spiele.“ Brandes ist dem Album möglichst ferngeblieben, wie einer Erinnerung, die man nicht mehr zurückholen will. „Jahrzehntelang habe ich die Platte nicht gehört. Und dann kam sie mir aus allen Richtungen entgegen. An den entlegensten Plätzen der Welt lief sie im Hintergrund. Meine Güte, dachte ich, ich muss da noch mal ran. Und jetzt höre ich sie sehr gerne.“
Das „Köln Concert“ ist eng mit seiner Zeit verbunden, einer Phase der Freiheit zwischen 1968 und dem Deutschen Herbst. So sehr 70er-Jahre wie Pink Floyd und Lavalampe, die Edition Suhrkamp und freie, lockere Liebe. Trotz der hohen Auflage verblasste die Wirkung aber nach und nach. Brandes erzählt, nach der Premiere des Films „Köln 75“ auf der Berlinale habe die Moderatorin das Publikum gefragt, wer die Platte bei sich zu Hause habe. Und nur wenige hätten sich gemeldet. Wenn sie selbst gefragt werde, was im „Köln Concert“ eigentlich passiere, antworte sie, so Brandes, meist: „Jemand erzählt eine Geschichte, nicht mit Worten, sondern mit Tönen. Und diese Geschichte ist ein Märchen, das uns die Zuversicht vermittelt, dass die Dinge gut ausgehen. Das können wir heute besser brauchen als je zuvor. Wir sind alle in größter Sorge, in größter Angst, in absoluter Unsicherheit, und etwas Versöhnliches und Mutmachendes wie Keith Jarretts Auftritt in Köln 1975 ist ein gutes Gegenmittel.“
Aber nun, Frau Brandes, woher kamen die ersten Töne des Konzerts? Was genau ist Jarrett in den Kopf gefahren? „Das war so: Wir sind auf dem Weg zur Oper durch die Kölner Innenstadt am 4711-Haus vorbeigelaufen. Und dort ist zur vollen Stunde immer ein Glockenspiel. Um die Zeit, es war Ende Januar, spielten sie das Karnevalslied vom treuen Husar.“ Jarrett also setzte sich an den notdürftig geflickten Flügel, und er hatte eine Melodie im Kopf: „Es war einmal ein treuer Husar …“ Der Rest ist Jazzgeschichte.