Ein Kleinbauer aus Peru hat den Energiekonzern RWE verklagt. Nach zehn Jahren wird am Mittwoch das Urteil erwartet – es könnte historische Wirkung haben.
Für Saúl Luciano Lliuya begann der Klimawandel nicht mit einem Bericht des Weltklimarats – sondern direkt vor seiner Haustür: mit schmelzenden Gletschern, einem wachsenden Bergsee und der Angst vor einer verheerenden Flutwelle.
Der Kleinbauer aus Peru sieht sein Zuhause bedroht – und zog deshalb gegen den Energiekonzern RWE vor Gericht. Seine Klage ist ein international beachteter Musterprozess: Es geht um die Frage, ob große Emittenten für konkrete Klimaschäden haftbar gemacht werden können.
Nach gut zehn Jahren fällt das Oberlandesgericht Hamm am Mittwoch ein Urteil – mit möglichen Folgen weit über Deutschland hinaus. Capital beantwortet die wichtigsten Fragen zum Prozess:
Wer ist Saúl Luciano Lliuya?
Saúl Luciano Lliuya ist ein Kleinbauer aus der peruanischen Andenstadt Huaraz. Der 44-Jährige bewirtschaftet mit seiner Familie kleine Felder, auf denen er Kartoffeln, Mais und Quinoa anbaut. Als ausgebildeter Bergführer kennt er die umliegenden Gletscher der Cordillera Blanca seit Jahren – und beobachtet mit Sorge, wie sie infolge des Klimawandels rapide schmelzen.
Besonders besorgt ist Lliuya über den Gletschersee Palcacocha oberhalb von Huaraz. Durch die Gletscherschmelze ist dessen Wasservolumen in den vergangenen Jahrzehnten stark angestiegen, was die Gefahr von Überschwemmungen und Schlammlawinen erhöht. Eine solche Katastrophe könnte aus Sicht von Lliuya nicht nur sein eigenes Zuhause rund 25 Kilometer unterhalb des Sees bedrohen. Auch die 55.000 Einwohner zählende Stadt Huaraz insgesamt könnte in Gefahr geraten. Deshalb klagte er 2015 gegen den Energiekonzern RWE.
Was will Lliuya von RWE?
In dem Zivilprozess will der Landwirt erreichen, dass sich der Energiekonzern RWE an Kosten für Schutzmaßnahmen gegen eine mögliche Flutwelle durch den Gletschersee Palcacocha beteiligt. Nach Ansicht des Klägers trägt RWE durch seine Kraftwerke Mitverantwortung durch den Ausstoß von Treibhausgasen.
RWE, so haben Experten der Universität Oxford berechnet, ist für wenigstens 0,47 Prozent aller CO2-Emissionen weltweit verantwortlich und historisch gesehen einer der hundert größten Klimasünder der Welt. Unterstützt wurde Saúl Luciano Lliuya bei der Klage von der Umweltorganisation Germanwatch.
Was sagt RWE zur Klage?
Der Essener Energiekonzern hält die Klage für rechtlich unzulässig. Die Begründung: Der Klimawandel sei ein globales Phänomen, das durch eine Vielzahl von Emittenten verursacht werde. Daher sei es rechtlich nicht zulässig, einzelne Unternehmen für die weltweiten Auswirkungen verantwortlich zu machen.
Ein Sprecher von RWE erklärte kürzlich: „Wenn ein solcher Anspruch nach deutschem Recht bestehen würde, könnte auch jeder Autofahrer haftbar gemacht werden.“ Der Konzern plädiert deshalb für staatliche und zwischenstaatliche Instrumente, um das Klimaproblem in den Griff zu bekommen – und nicht rückwirkend über Gerichte.
Wie lief der Prozess bisher?
Der Musterprozess Lliuya gegen RWE dauert bereits seit zehn Jahren an. Zunächst hatte das Landgericht Essen die zivilrechtliche Klage abgewiesen. Doch im Jahr 2017 entschied das Oberlandesgericht Hamm, das Verfahren zuzulassen – ein deutliches Signal: Deutsche Unternehmen können für weltweite Klimaschäden zur Rechenschaft gezogen werden. Gleichzeitig zeigte sich, dass deutsche Gerichte inzwischen auch über die Landesgrenzen hinaus genau hinsehen.
Das wurde besonders im Frühjahr 2023 deutlich: Damals reisten deutsche Richter und vom Gericht bestellte Sachverständige zur Beweisaufnahme in die peruanische Stadt Huaraz – ein Novum. Vor Ort ging es um die Frage, ob das Haus des Klägers und seiner Familie tatsächlich von einer möglichen Flutwelle des Palcacocha-Gletschersees bedroht ist. Dazu wurden Messungen vorgenommen, Bodenproben entnommen und Drohnenaufnahmen gemacht.
Ihren Befund stellten zwei Gutachter nun Mitte März in einer mündlichen Verhandlung vor dem OLG in Hamm vor. Beide relativierten die vom Kläger Saúl Luciano Lliuya geäußerten Sorgen. Ihren Berechnungen zufolge liege die Wahrscheinlichkeit, dass das Haus des Landwirts von einer Gletscherflut betroffen sein könnte, in den nächsten 30 Jahren bei rund einem Prozent. Und wenn, ergebe sich ein Wasserstand von höchstens 20 Zentimeter – zu wenig, um die Bausubstanz des Hauses zu beschädigen.
Die Klägerseite hält das Risiko indes für deutlich höher und kritisierte das Gutachten als unvollständig. Sie argumentiert, dass es die Gefahren durch tauenden Permafrost und mögliche Felsstürze unterschätze. Ein von der Klägerseite beauftragter Gutachter, Lukas Arenson, kam zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit einer Flutwelle in den nächsten 30 Jahren bei bis zu 30 Prozent liegt.
Nach Abschluss der Beweisaufnahme wurde der Urteilsspruch zunächst Mitte April 2025 angesetzt. Wegen eines Befangenheitsantrags wurde er dann jedoch auf den 28. Mai verlegt.
Wie stehen die Chancen für Kläger Lliuya?
Wohl eher schlecht. Das meint zumindest Frank Bräutigam, Rechtsexperte bei der ARD. Für ihn bestehen die größten Hürden darin, juristisch eindeutig nachzuweisen, dass die weltweiten Emissionen von RWE konkret für die Bedrohung von Lliuyas Haus verantwortlich sind. Außerdem sei es sehr schwer zu beweisen, dass genau die Emissionen eines einzelnen Unternehmens direkt für bestimmte Klimaschäden verantwortlich sind.
Welche Folgen hätte ein Schuldspruch gegen RWE?
Sollte RWE hingegen verlieren, könnte das weltweit Folgeklagen für große Energieunternehmen bedeuten. Auch die Finanzmärkte würden wohl mit Kursverlusten reagieren. Dazu müsste die Politik aktiv werden, um tausende Gerichtsprozesse für deutsche Unternehmen zu verhindern. Ein großes Ziel der Klimaschützer wäre damit erreicht.
Aufgrund der erwartet geringen Siegchancen bleibt dieses Szenario aber wohl vorerst theoretischer Natur. Der peruanische Kleinbauer Saúl Luciano Lliuyas sprach im Vorfeld aber bereits davon, den Prozess auch im Falle einer Niederlage nicht als umsonst anzusehen: „Ein deutsches Gericht hat meine Stadt besucht und sich angeschaut, was da passiert. Für mich ist das schon ein Erfolg.“