Datenklau, Gehirnwäsche, Suchtgefahr: Tiktok ist böse. In den USA sollte die App verboten werden. Warum ich meinem chinesischen Freund trotzdem treu bleibe.

Ich will ehrlich sein: Ich bin in einer toxischen Beziehung gefangen. Seit vier Jahren werde ich ausgenutzt und manipuliert. Sie kontrolliert mein Verhalten und verschlingt meine ganze Aufmerksamkeit. Unzählige Nächte hat mich diese Beziehung wachgehalten, sodass ich mich am nächsten Tag wie ein Opfer von Schlafentzug fühlte.

Aber das Schlimmste? Ich würde es immer wieder tun. Halten Sie mich in dieser Hinsicht ruhig für verblendet oder nicht mehr zurechnungsfähig. Doch erwarten Sie nicht, dass ich diese toxische Beziehung von mir aus beende. Ich hänge an Tiktok, meinem chinesischen Freund – dem unwiderstehlichen Spion, der aus meinem Handy kam.

Tiktok: die globale Sucht

Zu meiner Verteidigung kann ich sagen: Ich bin kein Einzelfall. Mit 1,9 Milliarden Nutzern – und die Zahl wächst rasant – ist fast jeder vierte Mensch auf der Erde Tiktok verfallen. Ich beruhige mich mit der Illusion, diese Abhängigkeit besser im Griff zu haben als der Durchschnitt, der täglich bis zu 95 Minuten mit Tiktok verbringt, während im Hintergrund still und heimlich die persönlichen Daten abgesaugt werden.

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Doch auch meine On-Off-Beziehung mit Tiktok dauert schon zu lange, als dass ich mir noch etwas vormachen könnte. Auch ich kapituliere immer wieder vor diesem gottgleichen Algorithmus, der mich besser kennt, als ich mich selbst – der weiß, was mich emotional gerade ansprechen könnte, bevor ich es selbst merke.

Der teuflische Algorithmus

Und darin liegt der teuflische Zauber von Tiktok, der alle Konkurrenten aus dem Silicon Valley alt aussehen lässt. Ein Speed-Dating genügt, um einen neuen Nutzer zu durchleuchten. Oder anders gesagt: Tiktok kannte mich nach zwei Minuten besser als Instagram nach zehn Jahren.

Instagram, du kannst dich nicht beschweren – du hattest deine Chance, mich kennenzulernen. Und hast sie vermasselt. Du warst ein unzuverlässiger Freund, der mir nie richtig zugehört hat. Stattdessen hast du mich immer wieder mit Dingen genervt, die mir völlig egal sind – wie dieses absurd teure Yoga-mit-Ziegen-Wellness-Urlaubs-Angebot auf Bali, das du mir kürzlich in die Timeline gespült hast.

Tiktok hingegen ist viel aufmerksamer. Es weiß, was ich will, was mich gut unterhält oder was ich gerne Neues lernen möchte, und überschüttet mich großzügig damit. Im Gegenzug darf Tiktok meine Aufmerksamkeit in köstliche 30-Sekunden-Dopamin-Häppchen zerschreddern, bis ich süchtig danach bin und mich dabei ertappe, wie ich plötzlich alle Internetvideos, die länger als eine Minute dauern, als quälend langatmig empfinde.

Ist Tiktok harmlos wie Bubble-Tea?

Als ich Tiktok während der Pandemie kennenlernte, hielt ich das Ganze für eine vorübergehende Internetbekanntschaft, die bald wieder aus meinem Leben verschwinden würde. Auf den ersten Blick wirkte diese Videoplattform so bunt und harmlos wie Bubble-Tea. Wie ein hochfunktionales digitales Zerstreuungsangebot aus China, um uns alle davon abzulenken, dass wir nicht mehr vor die Tür gehen konnten. Ich dachte: So wie einst das überall gehypte Tamagotchi würde auch Tiktok bald wieder in der Versenkung verschwinden.

So kann man sich täuschen. Tiktok verwandelte sich in kürzester Zeit zum einflussreichsten digitalen Marktplatz der Welt. Einerseits wird es verdammt als Hort der Verblödung und Datenausbeutung, andererseits ist es eine neue, wichtige Weltbühne, die niemand mehr ignorieren kann. Der Papst hat seit Kurzem auch seinen eigenen Tiktok-Account.

Gegen Tiktok ist niemand immun

Gegen Tiktok ist einfach niemand immun. Gegen diesen neuartigen Virus aus China gibt es keinen Impfstoff. Es hilft nur: Stecker ziehen. Und wer daran immer wieder scheitert – wie ich und Millionen andere Tiktok-Junkies auch –, den kann eigentlich nur noch die Tiktok-Prohibition retten.

Donald Trump hat es vor Kurzem versucht. Tiktok sollte in den USA abgeschaltet werden. Aber auch er, der erklärte China-Gegner, ist am Ende den digitalen Verführungskünstlern aus Peking erlegen. Eben noch eine „Bedrohung für die nationale Sicherheit“, war Tiktok plötzlich nach einer zwölfstündigen Betriebspause auf Trumps Erlaubnis hin wieder online. Das lang geplante Tiktok-Verbot in den USA wird erst einmal wieder verschoben.

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Man kann sich lebhaft vorstellen, wie Trump zuvor mit wachsender Begeisterung durch seinen Tiktok-Feed wischte. Und überall sah er dort nur Videos jubelnder Trump-Anhänger. Tiktok weiß eben, wie man jeden glücklich macht.

Wer kann da schon widerstehen? Ich glaube, ich muss an dieser Stelle Schluss machen – mein chinesischer Freund Tiktok wartet.