Im Familiendrama „Querschuss“ stirbt der fast 80-jährige Vater Joachim durch Selbstmord. Andrea Sawatzki und Christian Berkel stehen vor und hinter der Kamera, und sprechen im Interview über Tabuthemen.
Frau Sawatzki, Herr Berkel, Sie leben seit 1998 zusammen und sind mehr als 13 Jahre miteinander verheiratet. Oft standen Sie schon gemeinsam vor der Kamera, in „Querschuss“ aber erstmals als Geschwister – wie kam es dazu?
Sawatzki: Ursprünglich war geplant, dass wir das Ehepaar spielen. Ich habe keine Geschwister und fand die Idee, Christians kleine Schwester zu sein, plötzlich spannend. Die Dreharbeiten haben sich dadurch so schön und warm angefühlt. Es wäre toll gewesen, einen Bruder zu haben. Der vielleicht aber nicht ganz so kompliziert ist wie die Filmfigur Andi.
Berkel: Normalerweise kennt man die Person, mit der man spielt, entweder gar nicht oder nur wenig, und muss schnell eine Nähe herstellen, die künstlich erzeugt wird. In unserem Fall war es genau umgekehrt: Wir mussten zuerst eine Fremdheit schaffen, um dann von dort aus wieder eine neue Nähe zu finden. Das war aufregend.
Sie beide sind privat sowie beruflich ein eingespieltes Team. Gibt es noch Momente, in denen Sie sich am Set gegenseitig überraschen?
Sawatzki: Christian überrascht mich immer wieder, als Mensch und als Schauspieler. Bei unserem letzten Dreh war er maskentechnisch so verändert, dass ich an ihm vorbeigelaufen bin.
Wenn eine Gesellschaft glaubt, sich das leisten zu können, dann gräbt sie sich selbst das Wasser ab
Die Drehbuchautorin Esther Bernstorff sagte in einem Interview, dass Sie beide die Idee hatten, Alterssuizid zum Leitmotiv des Films zu machen. Warum ist es Ihnen so wichtig, dem Thema Aufmerksamkeit zu verleihen?
Berkel: Unsere Gesellschaft wird zunehmend älter. Gleichzeitig interessiert sie sich für zwei Gruppen besonders wenig: Kinder und alte Menschen. Kinder braucht man irgendwann, aber wehe, sie machen Terz. Die ältere Generation hat nichts mehr zu melden, sie wird nicht gebraucht. Wenn eine Gesellschaft glaubt, sich das leisten zu können, dann gräbt sie sich meiner Meinung nach selbst das Wasser ab.
Sawatzki: Als Filmschaffende ist es unsere Aufgabe, auf diesen Missstand aufmerksam zu machen. Als ich hörte, dass Christian einen Zeitungsartikel gelesen hatte, in dem stand, dass die meisten Suizide bei Männern ab 75 Jahren stattfinden, hat das etwas in mir bewegt. Ich fragte mich: Was geht in diesen Menschen vor, die ein – vielleicht erfülltes – Leben hinter sich haben und sich dann in völliger Sprachlosigkeit das Leben nehmen? Wie einsam müssen sie sein? Gerade die Generation unseres 80-jährigen Filmvaters wurde dazu erzogen, nicht über Gefühle zu sprechen. Wir müssen hinsehen und das Schweigen brechen – auch in der eigenen Familie.
Berkel: Nur wenn wir Schwäche zulassen, können wir Kraft entwickeln. Das ist wie im Physischen – wenn ich sage: „Ich bin nicht fit, aber darüber will ich nicht nachdenken“, dann werde ich tatsächlich schwächer. Warum sollte es mit der Seele anders sein?
Glauben Sie, dass die Diskussion über selbstbestimmtes Sterben in Deutschland genug Raum bekommt – oder wird das Thema noch zu sehr tabuisiert?
Berkel: Alter und Tod sind große Tabuthemen. Wir halten uns die Augen zu, in der Hoffnung, die Dinge würden so auf magische Weise verschwinden. Klingt infantil und ist es wohl auch.
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Einsamkeit im Alter ist oft unsichtbar. Das wird eindrücklich im Fall Ihres Filmvaters Joachim dargestellt. Hätte die Familie seinen Selbstmord verhindern können?
Berkel: Man weiß es nie genau. Doch Psychiater und Therapeuten beobachten häufig – und viele Familien erleben es –, dass die gefährlichste Phase einer schweren Depression nicht im tiefsten Tiefpunkt liegt. In diesem Zustand fehlt oft die Kraft für einen Suizid. Es kann ein Warnsignal sein, wenn jemand nach einer langen schlechten Phase plötzlich ohne ersichtlichen Grund gut gelaunt wirkt. Dann sollte man aufmerksam sein und auf die Person zugehen.
Suizid ist ein sehr sensibles und ernstes Thema, das mit viel Feingefühl und Respekt behandelt werden sollte. Gab es vor Ort beim Dreh Mental-Health-Koordinatoren, an die man sich wenden konnte?
Sawatzki: Nein, die gab es nicht. Ich bin der Meinung, dass man den Beruf eher an den Nagel hängen sollte, wenn man als Schauspieler in eine Rolle eintaucht und abends nicht wieder herauskommt. Schauspielerei ist ein Handwerk, man übernimmt für sich selbst die Verantwortung.
Berkel: Es ist ja unsere Aufgabe, in fremde Leben und Situationen einzutauchen. Natürlich nimmt man immer etwas mit nach Hause, manchmal auch unbewusst. Dann sagt Andrea zu mir: „Mach irgendwas, lenk dich ab, sonst bleibst du hängen.“
Sawatzki: Es ist ein Luxus, fremde Leben zu leben.
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In Ihrer ersten gemeinsamen Szene fallen Sie sich als Ulrike und Andreas weinend in die Arme. Wie schafft man es, beim Dreh auf Knopfdruck die Tränen kullern zu lassen?
Sawatzki: Das ist schwer, weil man inmitten einer Menschenmenge steht, und alle warten. Dann ruft die Regie auch noch: „Jetzt wollen wir mal!“ Ich bin der Ansicht, was sich viel mehr als Tränen überträgt, ist das, was der Schauspieler in dem Moment fühlt und wie sich das äußerlich zeigt.
Berkel: Manche Kollegen hören traurige Musik oder erinnern sich an ein Erlebnis – das funktioniert bei mir überhaupt nicht. Null Komma null. Wenn ich mich der Situation öffne, kommt es – oder nicht. Als Messdiener war ich auf vielen Beerdigungen und fand es seltsam, wenn Menschen weinen wollten, nur weil es sich so gehört.
Die Familie Hoffmann ist von unterdrückten Emotionen und alten Wunden geprägt. Welche Situation ging Ihnen außerordentlich nah, Herr Berkel?
Berkel: Das Verhältnis zwischen Andreas und dem verstorbenen Joachim. Der Sohn konnte es dem autoritären Vater nie recht machen. Söhne fühlen sich in ihren Sehnsüchten und in ihrer verletzlicheren Männlichkeit oft nicht wahrgenommen. Aber wenn Männer ihre Wünsche nicht erkennen und aussprechen, bleibt echte Nähe in jeglichen Beziehungen unerreichbar.
Ein Happy End wäre zu simpel
Wie kam man eigentlich auf den Filmtitel, der irgendwie auch nach einem Krimi klingt?
Sawatzki: Über den Titel haben wir lange nachgedacht. Ich finde die Vorstellung eines Querschusses, also eines Querschlägers, absolut treffend. Die Kugel, mit der sich der Großvater das Leben nimmt, trifft nicht nur ihn, sondern in gewisser Weise die ganze Familie.
„Querschuss“ verzichtet auf ein klassisches Happy End, das vermutlich viele erwarten würden. Warum war das für diese Geschichte die richtige Entscheidung?
Berkel: Wir haben anderthalb Stunden lang eine Familie beobachtet, die sich langsam und mühsam beginnt zu öffnen. Der Sohn Clemens weint in den letzten Minuten zum allerersten Mal über den Verlust seines Großvaters. Die Hoffmanns haben gelernt, dass jeder seinen Gefühlen Ausdruck verleihen darf. Das Ideal von einer Familie ist nicht, dass sich alle ständig Liebeserklärungen machen, sondern dass jeder einfach sein darf – in all seinen Facetten.
Sawatzki: Diese Familie beginnt erst am Ende, den Tod des Vaters, Opas, früheren Geliebten und Mannes gemeinsam zu verarbeiten. Die Steine für den Weg sind gelegt, jetzt müssen sie ihn nur noch gehen. Ein Happy End hinzustellen, wäre zu simpel.
„Querschuss“ ist ab jetzt in der ARD Mediathek zu finden und läuft am Mittwoch, 12. Februar 2025 um 20.15 Uhr im Ersten